Journal

Journal 2002

21. Juli, Sonntag, Köln
Am Sonntag, den 21. Juli, beziehe ich mein neues Atelier auf der Zülpicher Straße. Mit den drei anderen Künstlern im Haus: LvA, WM und BS, gab’s eine Wein-Runde. L sagte: Das wird Dein Leben ändern – und wir brachten darauf ein Toast aus und sagten: ars longa, vita brevis. Aber betrifft dieser Satz des Arztes Hippokrates nicht eher die Kürze des Lebens, als die Länge der Kunst? Ist es überhaupt ein Satz zur Kunst in unserem Sinn oder meint er nicht vielmehr die ärztliche Kunst? Die Vorhersage eines anderen Lebens scheint mir etwas pathetisch. Freilich ist es jedoch genau das, was mir vorschwebt. Doch zunächst muß erst einmal der Raum renoviert werden.

10. August
Sobald ich die steile Eisentreppe hinauf bin und hinter mir die dünne Holztür verschließe, tauche ich in das Aroma des Ateliers ein und die übrige Welt bleibt draußen. Ich verharre im Raum und sehe mich um. Das Tempo wechselt. Nichts ist geboten. Nichts gefordert. Doch alles ist bereit. Die Renovierung ist abgeschlossen. Ich sichte heute altes und neues Bildmaterial.

Ich erprobe und bebrüte Projekte, die ich ausführen könnte. Da gibt es eine Serie von Landschaftsskizzen: Cape Cod, Pele (Vulkangöttin), Jardin du Luxembourg, Na-Pali-Coast, eine Bergszenerie aus dem Hawaii-Journal, Weg zum Vulkan, ein Lava-Bild, eine Ansicht von Waikiki von Werners Haus aus gesehen, der Mormonendom. Eine Figuren-Serie ist schon entworfen: ein Puppentrio, Freunde, Strandwächter. Weitere Ideen: Maschinen, Vergrößerte Close-Ups. Material aus einer Recherche: Graffitis, Kid’s stuff, moderne Kunst. Ich experimentiere in rascher Folge mit allerlei Themen, kleinen und mittleren Formaten.

19. August
Die neuen Recherchen und die alten Skizzen erwachen, auch nach wiederholten Versuchen, nicht zum Leben. Erstens: Seit der originalen Skizze ist zuviel Zeit vergangen. Die Malerei wird zu einem Akt der mechanischen Ausarbeitung. Ich will aber kein altes Skizzen-Lager abarbeiten. Zweitens: Vorbilder aufzugreifen und zu variieren ist stupide. Ich will aufbrechen. Ich muß etwas Neues machen. Ich male in kurzer Zeit ein Dutzend und mehr Bilder.

WM schaut gelegentlich vorbei, geht die Staffeleien ab und brummelt unverständliche Laute. Weder Zustimmung noch Ablehnung.

Die Lage bleibt offen. Es gibt keinen Zwang zur Definition. Niemand erwartet ‘Kunst’. Henner Schlieker sagte einmal zu uns Kunststudenten: Macht alles, was ihr wollt, aber macht keine Kunst. Das Atelier befreit mich.

30. August
Eine heftige und laute Debatte mit den Künstlern im Haus über Beuys und seinen bahnbrechenden Einfluß auf die jüngere Kunst. Wohin kann man nach Beuys noch gehen, im künstlerisch Konzept? Alle suchen einen Weg. Ich stecke mitten in der brausenden Debatte und nehme teil. Ich sehe aber die künstlerische Evolution nicht als einen gradlinigen Weg, der von den Alten Meistern über die Modernen zu Beuys führt und dann vor dem Rätsel steht, wohin es nach Beuys noch gehen könnte.

Die Frage, wohin ich nach oder mit Beuys gehen sollte oder könnte, bewegt mich gar nicht. Mir ist Beuys wichtig und gleichgültig in einem. Seine frühen Zeichnungen sind großartig. Doch ich finde ihn später nur noch prätentiös. Die Idee eines „erweiterten Kunstbegriffs“ als Innovation auszugeben, ist barer Unsinn, schon die Oper hat die Einheit der Gattungen, spätestens mit Wagner, vollzogen. Dummdeubelei also. Viel späteres ist völlig schief und leer. Ich erfreue mich jedoch an der Fluxus-Idee (vielleicht sollte ich auch ein paar Boxen machen?) Da sind mir freilich Georges Maciunas und Wolf Vostell lieber. Schon durch ihren Humor. Kunst ohne Humor wird selbstgefälliges Dogma. Meisterwerke entstehen nicht aus dogmatischen Debatten. Ich warf ein: Lest bitte von Gertrude Stein Was sind Meisterwerke? Aber niemand hörte mir zu. Gleichwohl war die schwirrende Verwirrung sehr kreativ. Enthusiastische Konfusion: unterhaltsam und produktiv. Ohne Unfug keine Kunst. Also doch: Beuys. Nur anders.

29. September
Ich beschäftige mich mit den Techniken und besonders mit den Bindemitteln der alten Meister zwischen Leonardo da Vinci und Rembrandt. Nach einem Monat chemischer Experimente habe ich das alte Geheimnis gelüftet. Denn auch die Rezepte von Jacques M sind falsch (absichtlich?).

05. Oktober – Lentas (Kreta)
Soeben in meinem kretischen Refugium angekommen. Ich sitze am ersten Morgen auf der Terrasse und blicke auf die Libysche See. Der Platz ist seit mindestens 2500 Jahren bewohnt. Ein Asklepeion zeugt von Hippokratischer Kunst. Neben dem Haus liegen ausgemauerte Klüfte, in denen man die mineralische Luft und den Heilbrunnen des Ortes genoß, schon in der Antike. Der Wirt Zacharias versorgt die Schlüssel zu den antiken Stätten.

Die Kunst ist wie dieser Ort. Ich sehe die Malerei über die Jahrhunderte, und die Kunst insgesamt, als ein Panorama und als großes gemeinsames Archiv, das wir Künstler geschaffen haben, und aus dem wir uns immer wieder bedienen. Da ist keine lineare Entwicklungslinie. Doch es gibt einen gemeinsamen Grundsatz der Kreativen: Du machst nicht genau das nochmals, was jemand zuvor schon gemacht hat. Wir möchten schon ein wenig Variation sehen! Das gilt so seit dem Manierismus als unser d’accord.

Ergebnis: der Strom der kreativen Werke nimmte die Gestalt einer kontinuierlichen Verschiebung an. Es geht immer weiter fort von dem letzten statement aus, das uns beeindruckt hat. Jedes Meisterwerk definiert also immer wieder genau den Ort, von dem wir uns entfernen. Diese Negation ist die einzige Orientierung des kreativen Künstlers. Von den Byzantinern bis zur romanischen Malerei galt das genaue Gegenteil: Mache genau das, was alle vor Dir schon gemacht haben. Diese Maxime bindet uns freilich nicht mehr, im Gegenteil, wir suchen alles frühere immer zu überbieten. Was heißt das: überbieten? Ich sollte ein DADA-Konzept einmal im Stil der Alten Meister ausführen: Auch eine Ãœberbietung – und zwar eine doppelte, der Alten wie der Modernen Meister!

10. Oktober – Lentas, am Strand jenseits von Diskos
Ins Zentrum: die Malerei!

Mitte November РK̦ln
Beschäftigung mit Malern:

  • Otto Freundlich (* 10. Juli 1878 in Stolp, Pommern; † 9. März 1943 im KZ Lublin-Majdanek oder Sobibor)
  • David Hockney
  • R. Penck
  • Lucio Fontana
  • Sigmar Polke
  • Markus Lüppertz

Notizen zur Technik:

  • Bildaufteilung (vertikale und horizontale, diagonale und kreisförmige Bildlinien)
  • Elemente (geometrische, Wolken, Sonne, Figuren, Paisagen, Architekturen)
  • Anordnung der Elemente
  • Technik (gemalt, Schablone, Schnipsel, ausrollen, abkleben, getupft, Monotypie, Pendel, Kammzug, Bespritzen, Spachtelzug, Abfließen)
  • Farbstellung

auf der Rückseite: Entwürfe

 

Journal 2003

2. Januar
Malerei: Beschränken auf das Szenario der Wohnung als dem Ort, wo das Werk zur Ansicht kommt Vielleicht auch:
– Repräsentationsräume. jedoch sekundär
– Das Publikum: Liebhaber der Kunst
– Konsequenz: Schwerpunkt = Bild auf Tafel oder Leinwand im “handlichen” Format

Verminderung der intellektuellen Logistik, als dem erklärenden Kontext, an dessen Ende dann nichts mehr als ein Fettklops steht. Viel Kontext – wenig Werk.
Ziel kann nicht sein: der Kommentar fesselt den Zuhörer. Sondern: das Werk selbst fesselt die Betrachtung, und zwar dauerhaft, also das Unerschöpfliche im Malerischen, die Struktur, die Komposition, die Farbe, Textur … auch das Unaufgelöste, Vieldeutige, Ungefügige …